Lehrerparadies

Vom Duzen zum Siezen 


Gastkommentar von Johanna Christ (OStR‘)

Die Oberstufe sticht schon allein dadurch heraus, dass plötzlich Schüler, die man eventuell schon seit der fünften Klasse kennt und deren Entwicklung man von Kind zum Jugendlichen miterlebt hat, gesiezt werden. Plötzlich gehen dieselben Schüler/innen, die noch vor den Sommerferien auf dem Schulhof rumgehangen haben, aufrecht und mit einem gewissen Ernst zu einem anderen Gebäude, ebenfalls durch seine etwas abgesetzte Lage als „besonders“ herausgehoben. Ich wurde gebeten, in einem Artikel die Sicht einer Kollegin auf die Oberstufe darzustellen – und musste schnell feststellen, dass das gar nicht so leicht ist. Denn dieses augenscheinlich „Besondere“ ist nicht so leicht zu greifen, wie es auf den ersten Blick scheint, das „Sie“ und das Gebäude sind nur Symptome einer großen Veränderung, die Unterricht in der Oberstufe im Vergleich zu anderen Stufen ausmacht. Dennoch: Das „Sie“ bewirkt allerdings eine Menge! Personen, die noch vor einigen Jahren als Kinder am Mariengymnasium ankamen, die mit ein wenig Angst über die Größe der Schule – und die älteren Schüler – staunten, die sich selbst in die Pubertät und ihre Eltern in Krisen stürzten, die das Notenspektrum in Gänze ausloteten und dabei auch alle damit verbundenen Gefühle und Gespräche, diese Menschen sind nun keine Kinder mehr, sie werden gesiezt und sind damit junge Erwachsene.

Irgendwie funktioniert nun die Kommunikation mit den Lehrern anders, das „Sie“ macht etwas mit dem Blick der Schüler/innen auf sich selbst: Sie nehmen sich selbst ernster, so scheint es mir immer. Im Unterricht ist eher der Diskurs wichtig, nicht die Belehrung. Man begegnet sich eher auf Augenhöhe, oft können Schüler Inhalte besser annehmen, weil sie nicht mehr von so weit oben, der entfernten Sphäre der Erwachsenen, kommen, sondern man nun selbst ein Stück mehr Teil dieser Gruppe Interessierter und Gebildeter ist. Auch die Lehrer gehen zumeist anders mit den Schülern um, man erwartet einfach mehr Reife und mehr Selbstdisziplin, wenn man jemanden siezt.

Es scheint mir auch immer eine recht gewagte gedankliche Grätsche zu sein, jemanden zu siezen und dann noch, wie bei einem Kind, die Hausaufgaben zu kontrollieren und mit Strichen zu versehen. Denn – und das ist etwas Wunderbares und Besonders an der Oberstufe – jeder Schüler ist ja freiwillig da! Nach der 10. Klasse ist zwar nicht die Schulpflicht beendet (auch Berufsschulen sind verpflichtend), doch jeder Schüler und jede Schülerin entscheidet, zumindest pro forma, sich bewusst und intentional für ein Fortschreiten der Laufbahn in der gymnasialen Oberstufe. Ab Eintritt in diese dokumentiert man mit jedem Erscheinen Interesse – am Fach, am Lernen, an der eigenen Laufbahn. Möchte ein Schüler die Hausaufgaben nicht machen, dann sieht er keinen Sinn darin, entweder, weil er meint den Stoff zu beherrschen oder, weil ihm das Fach oder die Note egal sind. Ausdrücklich sei an dieser Stelle jedoch auch darauf hingewiesen, dass sich hier die Geister scheiden. Aus meiner persönlichen Sicht ist ein Schüler mit Eintritt in die Oberstufe reif genug, um selbst zu entscheiden, wie viel Zeit er in seine Bildung stecken möchte. Und Faulheit schlägt sich immer in der Note und im Kenntnisstand nieder. Das ist eben auch etwas Besonderes an der Oberstufe: Vorher gibt es die Holpflicht, man ist also als Kollege angehalten, jeden Schüler in den Unterricht einzubinden und ihn zum Mitmachen zu bewegen, also auch zum Lernen zu disziplinieren, Aufgaben zu kontrollieren, für Ruhe zu sorgen, kurz: innere Motivation durch äußeren Druck zu ergänzen. In der Oberstufe gilt die Bringpflicht, meldet sich ein Schüler also nicht, entscheidet er sich selbst für die schlechte Note. Man geht davon aus, dass jeder Schüler reif genug ist, Entscheidungen zu fällen, über die Laufbahn, aber auch über die Gestaltung der Mitarbeit, des Lernens und eventuellen Unterstützungsbedarf. Das zeigt, dass wir als Kollegen Schüler in der Oberstufe auf eine viel erwachsenere Art ernst nehmen – mit allen Konsequenzen.

Die Konsequenz im Unterricht ist die, dass es ruhig ist, konzentriert und damit interessant sein kann für beide Seiten. Ich habe einmal einen Schüler aus der Mittelstufe, der besonders viel gestört hat, im Oberstufenunterricht nachsitzen lassen und danach noch über die Stunde mit ihm gesprochen – er hat es als äußerst angenehm empfunden, dass es einfach nur ums Lernen ging und niemand die anderen nervte. Als Schüler der Mittelstufe kann man sich diesen Zustand manchmal nur schwer vorstellen, wir Lehrer empfinden den Unterricht in der Oberstufe oft als Erholung, wie auch der beeindruckte Störenfried. Und da alle konzentriert sind, geht es einfach ums Fach. Lehrer wird man, weil man seine Fächer liebt und die eigene Faszination an ihnen unbedingt weitergeben möchte. In der Oberstufe kann dies in Reinform passieren: vertiefte Gespräche über fachlich anspruchsvolle Inhalte, Progression im Stoff, selbstverantwortliche, effektive Gruppenarbeiten… Ein Lehrerparadies!

Diese ganzen guten Seiten der Oberstufe funktionieren aber nur, wenn sich die Schüler/innen dessen bewusst sind, dass sie freiwillig da sind. Wenn sie sich für ihre Fächer interessieren; (sicher, niemand liebt jedes Fach, das wäre verfehlt, aber Interesse kann man für vieles entwickeln); wenn sie gelernt haben zu lernen und darin Vergnügen entwickeln sich in Lerngruppen zu treffen; wenn sie auch mal frustrierende Phasen durchhalten können; wenn sie bereit sind etwas zu tun, auch etwas, das über die pubertäre Komfortzone hinaus geht, etwa freiwillig etwas lesen, eine Ausstellung besuchen, einen Beitrag hören oder sehen, der zum Thema gehört, mit offenen Augen interessiert durch die Welt zu gehen und sich selbst als Lernende ernst zu nehmen. Dann ist die Oberstufe auch für Schüler meist die schönste Zeit an der Schule und oft auch darüber hinaus. Sie ist der letzte Schutzraum vor der wahren Welt, vor Studium oder Ausbildung. Schüler sollten dies für sich nutzen und sich von der ganzen Begeisterung, dem Potenzial, das wir Kollegen in jede Stunde tragen, anstecken lassen. Denn das, was bleibt, ist nicht der immer gleiche Abiball (übrigens: wie wäre es mal mit einer Strandparty mit Tanzfläche unter dem Sternenhimmel und Grillbuffett?), sondern die Bildung, die in der Oberstufe so breit wie nie zuvor und nie wieder in einem Menschen gesät wird und Früchte trägt. Diese Früchte tragen einen vielversprechenden, wirkungsmächtigen Namen: man nennt sie die „allgemeine Hochschulreife“.

Eine Antwort auf „Lehrerparadies“

  1. Johannas Gastkommentar hat mich gefesselt und mir zahlreiche neue Erkenntnisse über das Leben und Miteinander in der Oberstufe gebracht. Danke wie auch ein generelles Lob an das gesamte Redaktionsteam. Die einzelnen Beiträge hatten hohes Niveau!

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