Kein Entkommen!

Eine Kurzgeschichte in drei Teilen (2)

von Chiara Fleßner (Kl. 8)

Illustration: Emily von Hattinga

„Verdammt!“ Ich habe den ganzen Nachmittag lang versucht diesen blöden Code zu knacken, leider erfolglos. Ich habe es mit Blindenschrift probiert, mit Büchern über alte Schriften, mit Büchern, die  gepunktete Muster auf dem Cover haben und mit Rätselbüchern, aber gar nichts habe ich heraus gefunden. Ich musste mich damit abfinden, vielleicht nicht an diesem Tag raus zu kommen. Dann muss ich mich wohl leider bis nächste Woche gedulden müssen. Doch da fiel es mir auf: Warum kann ich immer nur an einem bestimmten Tag ausbrechen? Weil es Mittwoch ist: der Tag, an dem ein Gefangener entlassen wird. Voraussichtlich gibt es jemanden, der entlassen wird. Zufälligerweise weiß ich, dass Korin heute frei kommt. Doch wenn ich mich nicht irre, dauert es bis zum nächsten Mal ziemlich lange. Das bedeutet, ich kann nur heute ausbrechen. Das mit nächster Woche hat sie nur gesagt, damit ich das Rätsel lösen kann, damit ich auf Korin komme. Also weiß ich auch, wo ich ausbrechen muss. Oder bedeutet das nur, dass ich mit Korin reden soll, bevor sie entlassen wird? Ich blickte zur Uhr, die über der kaputten Tür der Bibliothek hing. 16 Uhr. Korin müsste sich gerade im Gemeinschaftsraum von allen verabschieden.

„Ich möchte Korin Lebewohl sagen, könnten wir uns schnell in Richtung Gemeinschaftsraum begeben?“, fragte ich Officer Merow, der mich auf Schritt und Tritt begleitet, nur nicht, wenn ich aufs Klo muss. Überraschenderweise gestattete er es. Wir hasteten zum Gemeinschaftsraum und ich konnte Korin gerade noch erwischen. „Korin! Warte!“ „Ally, willst du dich auch verabschieden, Kleines?“, fragte sie grinsend. An diesem Ort hast du entweder Freunde oder Feinde. Die meisten, die gerade in diesem Raum sind, sind Freunde. Korin gehört zu meinen intensiveren Freundschaften hier, auch wenn jeder im Endeffekt auf sich allein gestellt und sie circa zehn Jahre älter als ich ist. „Mehr oder weniger. Ich habe eine wichtige Frage an dich.“  „Dann schieß los, du hast ungefähr zwei Minuten, bevor ich aus diesem Saftladen verschwinde.“ „Na gut.“, begann ich zu flüstern, „was weißt du über den geplanten Ausbruch von Maria? Sie hat ihn mir überlassen.“ Korin blickte umher, um sich zu vergewissern, dass keiner uns belauschte. Dann flüsterte sie mir ins Ohr: „Du findest die Antwort in meiner Zelle. Beeil dich.“ In diesem Moment sind die Wärter da, um sie zum Ausgang zu begleiten. Sie ging davon, links und rechts eskortiert von zwei Polizisten, blickte kurz zurück, lächelte, zwinkerte mir zu und verschwand. Ich wollte los laufen, doch der Wärter an der Tür des Gemeinschaftsraumes ließ mich nicht durch. „Wohin so eilig?“, fragte er misstrauisch. „Ich gehe auf die Toilette. Dieses Recht ist auch Gefangenen nicht verboten, oder?“ fragte ich arrogant und erwartete keine Antwort. Er ließ mich durch. Bis ich um die Ecke des Flures war lief ich normal, dann rannte ich los. Die Überwachungskameras werden erst heute Abend durchgeschaut, bis dahin bin ich schon hier raus. Hoffentlich. Am Ende dieses Ganges befand sich Korins Zelle und tatsächlich war niemand hier, der die leerstehende Zelle bewachte. Noch nicht. Korin war nicht die einzige, die in diesem Gang ihre Zelle hatte. Doch alle anderen waren in Begleitung im Gemeinschaftsraum. Doch nicht mehr lange und sie würden zurückkehren. Oder der Polizist vorm Gemeinschaftsraum wird misstrauisch und sucht nach mir. Also ging ich schnell in die Zelle. Da sie zurzeit niemanden gehört, stand sie offen. Ich blickte mich um, schaute unter dem Bett nach, in den Schließfächern, beim Waschbecken, überall, doch das Wesentliche übersah ich. Die Einkerbungen an der Wand waren mir zunächst gar nicht aufgefallen. Es waren Punkte, allerdings in anderer Reihenfolge als die auf meiner Serviette. Sie sahen aus wie Buchstaben, die nicht verbunden, sondern nur als Punkte notiert wurden. Ich entzifferte den Titel eines Buches, das ich vor drei Jahren gelesen hatte: Leben oder Tod. Ich wusste den Standort in der Bibliothek, also wollte ich mich auf den Weg machen, um das Buch zu holen. Doch da hörte ich eine Stimme: „Was machst du hier?“

Ich war wie erstarrt. Langsam und vorsichtig drehte ich mich um, zutiefst erschrocken, dass man mich hier ertappt hatte. Ich war erleichtert, als ich sah, dass es nur eine Mitgefangene war. Und doch wieder ängstlich, als ich erkannte, dass diese Frau, die mich finster anstarrte, eine der „Tempting fires“ war. „Ich habe dich was gefragt!“ „Ich wollte nur Korin verabschieden.“, kam es schnell aus mir heraus. Schweißperlen rannen mir von der Stirn. Ich wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, dass kein Officer hier war, da sie mich gut hätte umbringen können, wo wir hier doch ganz alleine waren. „Da bist du zu spät, sie ist bereits weg! Das hier ist jetzt meine Zelle!“, sagte die Frau düster und halb brüllend. „Raus hier, bevor mein Polizist wieder kommt und dich fragt, was du hier alleine zu suchen hast, oder ich dich hier heraus schaffe!“ „Ich gehe schon!“ Schnell rannte ich wieder Richtung Gemeinschaftsraum. Warum durfte sie sich ohne Aufsicht frei bewegen? Doch ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, ich musste schnell in die Bibliothek. „Ich würde gerne in die Bibliothek.“, sagte ich  zu Officer Marrow, der vor dem Gemeinschaftsraum auf mich wartete. „Schon wieder? Haben Sie noch nicht das richtige Buch gefunden, Smith?“ „Nein, ich wollte Korin verabschieden und musste meine Suche somit beenden. Können wir nun bitte gehen?“, sagte ich in einem ziemlich hochnäsigem und arrogantem Ton. Wir liefen in die Bibliothek.

Ich nahm mir das Buch Leben oder Tod und blätterte es durch. Da!Auf Seite 35 waren Punkte zu sehen, die mit einem Bleistift eingedrückt wurden. Sie sahen genauso aus wie die auf der Serviette. Ich las mir die Seite durch: „Und so wusste ich, der einzige Ausweg war ein Plan. Meinen Plan habe ich versteckt, damit niemand ihn finden konnte, doch wenn du das liest, bist du nah dran. Der Plan ist gut, er ist sehr gut und ich werde ihn dir verraten, wenn du mit dem richtigen Passwort zu mir kommst. Ich liebe es nun einmal zu spielen!“ Diese Zeilen stammen nicht aus dem Originaltext, die musste Maria hinzugefügt haben. Doch was ist das Passwort? Komm schon streng dich an. WIE LAUTET DAS PASSWORT? Da fiel es mir auf: Die Punkte stehen für ein Wort aus jeweils einer der verschiedenen Zeilen. „Einzige. Ausweg. Nah. Der. Spiele.“, sagte ich leise vor mich hin. Das Buch klemmte ich unter den Arm und ging in Richtung Ausgang.

„Ich habe das Buch gefunden. Nun möchte ich wieder in den Gemeinschaftsraum.“ Officer Merow blickte mich finster und genervt zugleich an, doch ich lächelte nur und ging los. Im Gemeinschaftsraum suchte ich Maria und fand sie zufälligerweise in der Nähe der Spiele. „Unheimlich“, flüsterte ich mir selbst zu. „Maria, der einzige Ausweg ist nahe der Spiele.“ „Gute Arbeit, Ally! Dann such doch mal nahe der Spiele, vielleicht findest du ja etwas“, sagte sie in einem verrückten Ton und blickte mich unheimlich an. Langsam und konzentriert ging ich zu den Spielen und hörte dann erst auf, Maria anzustarren. Ich guckte mir alles bei den und um die Spiele herum gut an. Auf dem Boden lag ein Teppich. Ich nahm ihn an einer Ecke hoch. „Hey, was wird das?! Hey!“, schrie ein Polizist.

Ich sprang durch ein Loch im Boden, landete auf allen vieren, stand auf und rannte los. Ich war in einem stockdunklen und kalten Tunnel. Ich wusste, dass bereits mehrere Polizisten hinter mir her waren und ich kannte den Weg nicht, der hier heraus führte. Es war so dunkel, dass ich jede Sekunde befürchten musste, gegen eine Wand zu laufen, ich rannte einfach weiter. Doch wo ich raus kommen würde, oder ob sie mich vorher fangen würden, wusste ich nicht. Das war mir in dem Moment auch egal. Ich war so leichtsinnig, dass ich nicht einmal darüber nachgedacht hatte, dass dies auch eine Falle sein könnte. „Sie muss da vorne sein, los Männer!“, hörte ich von weit hinten. Was würde mit mir geschehen, wenn ich geschnappt werde? Würde ich noch länger in den Knast kommen? Ich bemerkte, wie meine Beine anfingen zu zittern. Ich konnte die Tränen nicht zurück halten. Und so rannte ich, schweißgebadet, mit tauben Knien und ohne die geringste Chance es zu schaffen. Im Laufen wurde ich plötzlich in eine  Seitengasse gezogen, die man in der Dunkelheit nicht einmal sehen konnte. Bitte kein Polizist, Bitte kein Polizist.

„Korin?!“, schrie ich auf. „ Shhh! Liese, wir müssen los. Ich erkläre dir später alles, nun komm!“  Sie nahm mich an die Hand und rannte mit mir eine Treppe hoch, die man ebenfalls kaum wahrnehmen konnte. Dann ging es zwei Mal nach links, drei Mal nach rechts, gerade aus und wieder nach links, extra verwirrend für die Schar Polizisten, die hinter uns her waren. Wir gingen eine Treppe runter und am Ende des Ganges erblickte ich ein Fünkchen Licht. Wir rannten und kamen an einer Tür an, aus deren Seitenschlitze Licht hervor kroch. Korin öffnete die Tür. „Wo sind wir hier?“ „Erklär ich dir später, wir müssen weiter.“ Sie schloss die Tür hinter mir ab. In dem Raum, in den wir standen, war nur eine kleine Lampe an, dessen Licht eine unheimliche Stimmung verbreitete, doch das war ich mittlerweile gewohnt. Erst als wir die Treppe des großen Kellerraumes, den wir gerade betreten hatten, bestiegen hatten, durch die Tür oben verschwunden waren und ich durch ein paar Fenster Tageslicht sah, wurde mir Eines klar: Ich war frei!  

[Fortsetzung folgt]

Teil 1 findet ihr unter https://bloodymary.mariengymnasium-jever.de/500/feuilleton/kein-entkommen/

Teil 3 findet ihr unter https://bloodymary.mariengymnasium-jever.de/1095/feuilleton/kein-entkommen-3/

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